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Leseprobe Scherbenklang

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Prolog

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Es war kein schöner Morgen. Er war lichtlos. Müde. Und grau. Nicht nebelverhangen, wild und märchenhaft grau. Einfach trist. Die Sonne ging auf, ohne sich zu zeigen. Die Nacht wurde hell hinter blassen, dichten Wolken und ging ohne jegliche Schönheit in den Tag über. Man bemerkte den Wechsel nicht einmal. Plötzlich war er geschehen – und schlichtweg unbedeutend in seinem nichtssagenden Kleid. Er wirkte nass – ohne Regen; klamm und gleichgültig.

Es war ein Morgen, an dem Krähen, nicht Singvögel, über die Straßen spazierten. Es war der Morgen, an dem sie aufwachte und beschloss, es zu beenden.

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Kapitel 1

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Die Frau an der Rezeption sah ein weiteres Mal hinauf zu der vergilbten Wanduhr. Die Stunden seit dem Anruf waren quälend langsam vergangen und warfen mittlerweile die Frage auf, ob die Anruferin sich vielleicht einen Scherz mit ihr erlaubt hatte. Rita Meinthal schüttelte kaum merklich den Kopf und hob abschätzig die Augenbrauen. Ihr Job war sicher auf Lebenszeit, so viel stand fest. Wahnsinnige und gesunde Menschen, die sich für Kranke hielten und darüber ebenfalls wahnsinnig wurden, würde es wohl immer geben.
Klack. Wieder war der Zeiger einen Minutenstrich weiter gerückt. Einen Zentimeter näher heran an das Ende ihrer Schicht. Nur noch siebzehn weitere musste der schwarze Balken hinter sich lassen, dann konnte es Rita egal sein, ob die Anruferin sie auf den Arm genommen hatte. Dann hatte sie Urlaub. Drei himmlische Wochen würde sie mit ihrer Tochter auf den Malediven verbringen. Und sie konnte schon spüren, wie die Sonne, die Entspannung und das glasklare Meer die Hände nach ihr ausstreckten und sie ganz behutsam zu sich hinüber zogen. Hinaus aus dem Lärm und all den Abstrusitäten, die eine psychiatrische Anstalt so mit sich brachten.

Wie zur Bestätigung ihrer Gedanken hörte sie Wilhelm Sager irgendwo am Ende des Flurs seinen Standardsatz brüllen: „Hitler ist nicht tot! Hitler. Kann. Nicht. Sterben.!“

Eine ihrer Kolleginnen versuchte, beruhigende Floskeln murmelnd, ihn von einer vollkommenen Eskalation abzuhalten, doch es schien bereits zu spät. Ein anderer Patient hatte sich von dem emotionalen Ausbruch anstecken lassen: Etwas zerbarst scheppernd auf dem Boden und jemand schrie: „Nein! Nein! Sag‘ das Wort nicht! Nichts reimt sich darauf! Nichts reimt sich auf Hitler! Nichts! Neinneinneinneinnein!“

Rita verdrehte die Augen. Hätte man ihn doch bloß in der Geschlossenen gelassen. Sie erhob sich schwerfällig von ihrem Stuhl hinter dem Informationsschalter und versuchte mit einer ungelenken Kopfbewegung ein wenig ihre Nackenverspannungen zu lösen. Vergeblich. Mühsam lehnte sie sich über den Schreibtisch nach vorn und schob ihren Kopf durch das Schiebeglasfenster hinaus auf den Gang. Aus Verantwortungsgefühl. Aus Sensationsgier. Wer wusste das schon so genau. Fakt war, dass sie es tat und sich besser fühlte, als sie feststellte, dass ihre junge Kollegin die Lage im Griff zu haben schien. Mit einem Seufzen ließ sie sich zurück auf den Bürostuhl fallen und sah ein weiteres Mal hinauf zu der Plastikuhr. Noch dreizehn Minuten. Herr im Himmel. Hab‘ Erbarmen! Irgendetwas stimmte doch nicht mit dieser verfluchten Uhr!

Rita beschloss schließlich, schon einmal ihre Sachen zusammenzupacken. Pünktlich um zweiundzwanzig Uhr würde sie sich ausstempeln und das Gebäude verlassen. Keine Sekunde später. Umständlich zog sie ihre Tupperdose aus dem winzigen Mitarbeiterkühlschrank, stopfte sie in ihre Handtasche, rollte mit dem Stuhl ans andere Ende der kleinen, halbverglasten Kabine und bückte sich mühsam nach ihren Alltagsschuhen, die sie in wenigen Minuten gegen ihre lästigen Plastik-Clogs eintauschen würde.

„Frau Meinthal!“, der Ruf kam so unerwartet und schrill, dass Rita reflexartig den Kopf hochriss und mit dem Hinterkopf schmerzhaft unter eine Ecke des Schreibtisches schlug. Fluchend richtete sie sich vollends auf und sah vor dem Rezeptionshäuschen eine aufgelöste Praktikantin mit weit aufgerissenen Augen stehen.

„Was?“, blaffte sie unwirsch. Noch neun Minuten!

„Der Anruf, von dem Sie mir erzählt haben - “

„Ja?“, ungeduldig.

„Ich, ich glaube, sie ist da.“

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*

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Rita hatte mittlerweile ein Auge für Menschen wie sie entwickelt. Selbst, wenn es nicht kurz vor zehn Uhr abends gewesen wäre. Selbst wenn der Vorgarten der Klinik nicht menschenleer und verlassen, sondern voll von ruhiggestellten, besonnen Patienten und betont fröhlichen Besuchern gewesen wäre. Und selbst wenn die junge Frau nicht das übergroße, halb zerrissene Telefonbuch umklammern würde, als wäre es der wertvollste Schatz der Welt – Rita hätte sie erkannt. Überall. Hätte erkannt, dass diese Frau nicht einfach nur dastand und wartete oder nachdachte. Sie hätte erkannt, dass ihr später Gast gerade in diesem Moment, genau hier, psychisch zerbrach.

Rita schluckte kurz und taxierte die junge Frau vorsichtig mit einem prüfenden Blick. Fast schon meinte sie das feine Geräusch einer zersplitterten Psyche, einer geplatzten Seele in ihren Ohren zu hören. Ein leises, helles Knirschen. Klar und unverkennbar. Ein Klang ähnlich dem zweier raugebrochener Glaskanten, die sich gegenläufig aneinander verschieben.

Kristallscherbenklar.

Rita näherte sich der jungen Frau langsam, aber mit sicheren Schritten um einige Meter. Ihr Gegenüber starrte blicklos in ihre Richtung. Einzig ein kurzes Flackern ihrer Augenlider konnte entfernt als Reaktion gewertet werden.

Paralysiert. Passiv-verwirrt. Labil. Ungefährlich.

Rita stand nun nur noch eine Armlänge von der Frau mit den strähnigen, schwarzen Haaren entfernt. Ihre Augen lagen in tiefen Höhlen, die Wangen waren eingefallen und knochenblass.

„Willkommen, meine Liebe.“, sagte sie schließlich mit ihrer weichsten, gedämpftesten Stimme. „Wir haben Sie erwartet.“

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